Unsere Heimat im Spiegel der Presse  
   
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HVZ vom 26. März, 1. Juni und 4. Juni 1957:

Aus vergangenen Tagen
Aus den Erinnerungen eines alten Steinkircheners
(von Jakob KEVER)

Es macht viel Freude, in alten Erinnerungen zu schwelgen, vergilbte Papier und ehrwürdige Dokumente zu studieren und den großen und kleinen Ereignissen nachzugehen, die ein langes Leben erstellten.

Unter allem hat sich bei mir die Erinnerung an den Kriegsanbruch 1914 am tiefsten eingeprägt. Wenn so ein Krieg ausgebrochen ist, hört man sagen, der Krieg sei über Nacht gekommen und ginge auch wohl wieder über Nacht davon. Wie unwahr ist ein solcher Satz und wie groß ist der Irrtum, der darin ausge-
sprochen ist. Auch aus der Steinkirchener Perspektive kam der erste Weltkrieg nicht überraschend, und schon 1912 hörte ich einen alten Bauern sagen, unsere jungen Leute, die 1912 als Rekruten einzurücken hätten, würden nicht als Reservisten nach Hause kommen.

Eines Tages fand ich in der Zeitung einen weitsichtigen Satz des englischen Premiers zum „Wettrüsten“: „Das Wettrüsten wird einmal zum Untergang der gesamten europäischen Kultur und Zivilisation führen". Die Schüsse von SERAJEWO, unter denen der österreichische Thronfolger sein Leben ließ, waren ein Signal, das auch bis in unsere geruhsame und friedliche Welt schlug. Es gab damals noch kein Radio, und wir warteten immer ungeduldiger auf die Zeitung, die uns von den Verhandlungen, vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen, von ULTIMATUM und MOBILMACHUNG und schließlich auch vom Kreigsanbruch Kunde gab.

Die nahe holländische Grenze wurde sofort geschlossen, an den Hauptübergän- gen hermetisch abgeriegelt und bewacht. Dies geschah zunächst nicht durch das Militär, sondern durch die Dorfbewohner. Tagsüber waren die ältesten Leute, die zu anfallenden Getreideernte nicht mehr brauchbar waren (es waren sogar
80jährige dabei und einer hatte sogar seine 90 Lenze auf dem Rücken), dazu kommandiert. Bewaffnet wurden sie mit einem seltsamen HINTERLADER ohne Schloß und einem Revolver, den man nicht entsichern konnte. Nachts löste gedienter LANDSTURM diese „alte Garde“ ab. Ich entsinne mich noch, daß das Wachlokal in der „Bruchstraße“ im Hause der Geschwister GEISER eingerich-tet war, wo es bis zum Kriegsschluß 1918 blieb. Auch ZÖLLNER waren Wach- habende; sie trugen am rechten Arm eine weiße Binde mit dem Aufdruck
„VIII AK“ (8. Armeekorps). Nach Feierabend pilgerten viele Dorfbewohner zum Schlagbaum, um mit den Holländern über die weltbewegenden Geschehnisse zu plaudern, wobei die Meinungen vielfach auseinander gingen.

Am Mobilmachungsabend .....
Stand ich ziemlich lange am Schlagbaum. Der Wächter „Drick“ saß mit seinem furchtbaren Hinterlader im Arm auf einem Stuhl und schlief. Sein Kamerad „Hennes“ beteiligte sich lebhaft an unserer Unterhaltung über den Schlagbaum hinweg, als plötzlich einer auf dem Fahrrad heranbrauste und die Meldung rief: „Drick, Hennes, noah heem, et eß MOBIL, ihr mott sofort weg, noah Rhedt!“ In Rheydt befand sich nämlich das Bezirkskommando. Der schlafende Drick war sofort lebendig, und Hennes brach seine „internationale Diskussion“ am Schlagbaum sofort ab. Auf dem Heimwege stieß Drick dem Hennes in die Rippen und meinte: „Allé Hennes - es braust ein Ruf wie Donnerhall - ...“
Hennes war nicht zum Singen zumute: „Du kannst mech jestoale weäde met dinne Donnerhall, ech hann en Frau onn viev Kenger!“ Drick ließ sich nicht entmutigen: „Ech hann sääß Kenger, onn wenn du net metsöngst, dann seng ech alleen!“ Und Drick stimmte die „Wacht am Rhein“ an und ließ den „Donnerhall“ über die stillen, friedlichen Felder an der Rur brausen, daß ich noch heute seine Stimme zu hören vermeine.

Als wir zur Wache kamen, stand dort der Gemeindevorsteher und gab Drick und Hennes noch einmal den Mobilmachungsbefehl Seiner Majestät Wilhelm II. bekannt. Mir drückte er den Hinterlader ohne Schloß in die Hand und den nichtentsicherbaren Revolver: dann hatte ich „schwer bewaffnet“ die Wache an der Grenze zu beziehen. Die laue Sommernacht war fiebrig nervös. Überall hörte man aufgeregte Stimmen wie das Summen eines aufgestörten Bienenschwarmes, dazwischen klangen patriotische Lieder, aus der Ferne dröhnte Trommelschlag herüber, Hörnerklang war zu vernehmen, Feuerschein und schließlich sogar Glockengeläut. Die Mobilmachungsnacht ist mir ewig im Gedächtnis geblieben durch ihr aufgeregtes Durcheinander. Nach Jahren haben wir uns des öfteren noch an sie erinnert, und der eine oder andere sagte dann zuweilen: „Denkst du auch noch an die Mobilmachungsnacht?“ Als wir abgelöst wurden und ins Dorf kamen, fanden wir in dem stillen Steinkirchen alt und jung auf den Beinen. Alles war in großer Aufregung. Es gab viel Begeisterung, aber auch Tränen der Trauer von Frauen und Müttern bei dem Gedanken, daß nun bald Tage des Abschieds kommen würden.

Nach einiger Zeit wurde unsere Grenze von Soldaten in Uniform besetzt; im Februar 1915 war es die 1. Kompanie des Landsturm-Infanterie-Bataillons VIII. 16, Deutz. Die Soldaten trugen schmale blaue Achselklappen, und auf den Kragenaufschlägen waren in Messing weitleuchtend die Bataillonsnummern angebracht. Auf dem Kopf trugen sie einen hohen Tschako aus kräftigem Leder, der auf der Stirnseite in einem Metallschild den REICHSADLER mit den Buch- staben FW zeigte. Die beiden Buchstaben hießen wohl „Friedrich Wilhelm“. Ich erinnere mich genau, daß viele von diesen Ledertschakos zu Schuhsohlen ver- arbeitet worden sind.

(Fortsetzung vom 1. Juni 1957):
Es kam nämlich öfter vor, daß die Patrouillengänger in dunklen Nächten ohne Tschako auf die Wache zurückkehrten und als Grund für den Verlust einen Sturz angaben, bei dem der Tschako in den Rothenbach gefallen und rasch abgetrieben sei. Ob dies tatsächlich einmal passierte, läßt sich nicht nachweisen, obwohl der Patrouillenweg stellenweise durch finstere Tannenstände am Rothenbach verlief. Die allgemeine Lederknappheit im Kriege war jedenfalls schuld daran, daß Tschako-Verlustmeldungen häufig registriert wurden. Übrigens führte der Patrouillenweg über die LANDWEHR. Das Gebiet jenseits der Landwehr galt als Sperrgebiet und durfte ohne Ausweis nicht betreten werden, ebenso war ein Landstreifen von 20 bis 30 Meter längs der Postenkette zum Sperrgebiet erklärt. Nach Einbruch der Dunkelheit war der Aufenthalt im Sperrgebiet auch mit Ausweis nicht gestattet. Die Ausweise stellte der Abschnitt-führer aus und hatten jeweils nur einen Tag Gültigkeit.

Grenzwachen .....
Der Abschnitt I (Effeld) war in vier Wachen eingeteilt. Wache 1 im Zollhaus Rothenbach stellte einen Posten und die Patrouille nach DALHEIM zur Ver- bindung mit dem Nachbarbataillon VIII, 24. Die Wache 2 war im Hause
Peter KÜPPERS in der „Schleistraße“ untergebracht und stellte zwei Posten für die Gitstappermühle und Schlußbrücke. Wache 3 lag im Hause der Geschwister GEISER, „Bruchstraße“, und entsandte Posten zum Grenzstein 372 „am Männke“, zum Horstposten am „mittleren Bruchweg“ und zur „schwaren Kull“. Wache 4 hatte das Haus FEGER in Steinkirchen belegt und siedelte später in das Haus von Theodor LEHNEN (im Feld) über. Diese Wache schickte einen Posten an jene Stelle, wo die Rur ganz nahe an den Rurdamm herantritt, und einen zur „platten Kull“. Anfangs waren die Soldaten in Privathäusern untergebracht und wurden auch dort beköstigt, später zogen sie in die Säle von RÜTTEN und BUSCH in Effeld. Hier stand auch die Feldküche. Die „Garnison Effeld-Steinkirchen war damals immerhin 120 Mann stark. Der Bataillonsstab hatte zunächst in Geilenkirchen sein Quartier bezogen, rückte aber später näher heran und ließ sich in Heinsberg nieder.

Die ersten Nachrichten aus dem Felde

Da es 1914 noch keine Radios gab, waren wir auf die Zeitungsnachrichten angewiesen, die unter der Großüberschrift „Großes Hauptquartier“ die ersten Berichte über den raschen Vormarsch im Westen brachten. In den ersten Tagen des Krieges waren wir „akustisch“ beteiligt, denn als unsere Kanoniere Lüttich beschossen, ahnten wir, daß diese Schlacht nicht weit von uns weg sein konnte; wo sie aber genau war, wußte zum Zeitpunkt des Kanonendonners keiner von uns. Erst am folgenden Tage wurde im Dorf ein Telegramm angeschlagen, in dem zu lesen war, der Kaiser sei ins Feld gerückt und habe die Regierungsgeschäfte in die Hände des Reichskanzlers gelegt. Dann kam der folgenschwere Satz, daß aus Not ein Neutralitätsbruch begangen werden müsse und unsere Truppen durch Belgien marschieren müßten. Da ahnten wir, daß der Kanonendonner aus Belgien zu uns herübergedrungen war. Wie ahnten aber auch, daß wir uns durch diesen Einfall in Belgien manchen Feind in der Welt schaffen würden.

Einquartierung

Bald schon kam die Einquartierung. In den ersten Augusttagen zogen Berliner Jungens vom Landwehr-Infanterie-Regiment 35 „Prinz Heinrich von Preußen“ in unser Dorf ein. Sobald die strategischen Verhältnisse es forderten, zogen sie entlang der belgisch-holländischen Grenze bis nach Antwerpen und wurden dort eingesetzt. Bei uns war die Getreideernte im Vollen Gange und sie durfte unter keinen Umständen nachlässig durchgeführt werden. Jede Ähre war wichtig. Durch die Einberufungen warwn natürlich die besten Arbeitskräfte den bäuerlichen Betrieben entzogen, so daß zeitweise ein erster Notstand eintrat, der nur durch den freiwilligen Einsatz von alt und jung im Dorf beseitigt werden konnte.

Allabendlich versammelten sich die Menschen meiner Heimat zum gemeinsa-men Gebet. Der Krieg, so schien es, zeigte bald schon wachsende Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und vertiefte Frömmigkeit, eifrigeres Gebet. Einige sagten damals, der Krieg habe uns besser gemacht, was aber ein Veteran von 1870/71 mit den Worten abtat: „Durch den Krieg sind noch nie Menschen besser geworden, höchstens schlechter!“ Zunächst verstand man ein solches Wort wohl nicht, da das Gegenteil in den Dörfern der Fall war, später aber haben wir ihm recht geben müssen: der Krieg ist keine moralische Lehranstalt für uns gewesen!

(Fortsetzung vom 4. Juni 1957):
Holland zeigte bekanntlich im ersten Weltkriege jene „wohlwollende Neutralität“, die manche Not der Grenzbevölkerung lindern half. Über die gut bewachte Grenze kam alles das herein, was wir dringend brauchten: FLEISCH, BUTTER, REIS, TABAK, KAFFEE, STOFFE und vieles mehr. Die Soldaten als Grenz-wachen kniffen manches Auge liebevoll zu, wenn wieder einmal eine „schwere Ladung“ über die Grenze geschoben wurde. Nach den Kriegsgesetzen war das natürlich absolut verboten, und es standen hohe Strafen auf derartiges „Weg-
schauen der Wachen“. Aber Hunger tut eben weh, und keine Macht der Erde kann bekanntlich die ursprünglichsten Bedürfnisse des Menschen abschneiden.

So entwickelten sich die Wachleute allmählich zu Kaufleuten und sorgten für einen schwunghaften Handel. Erst als 1917 der uneingeschränkte U-Boot-Krieg auch den Holländern ihre überseeischen Nachschubwege blockierte, flossen die nahrhaften Quellen an der Grenze spärlicher und versickerten schließlich ganz.

Da ich nach der Musterung als für das Feld nicht tauglich angesehen wurde, schickte man auch mich 1917 als Wachmann an die hölländische Grenze unserer Gegend. Es war kein anstrengender Dienst, den ich zu leisten hatte, und ich denke gern an die ausgedehnten Wachgänge durch die schönen dichten Grenzwälder zurück. Es passierte nicht viel, und die meisten Tage endeten mit der wohlbekannten Meldung: „Ohne besondere Vorkommnisse!“

Ein Ereignis ist mir immer als besonders beklagenswert im Gedächtnis geblie-ben. In den späten Abendstunden des 21. Dezember 1917 versuchte ein russi-scher Soldat, der aus einem deutschen Gefangenenlager entwischt war, die Grenze zu überschreiten, um im neutralen Holland seine Freiheit wiederzuer-langen. Ein anderer Russe versuchte es wenig später. Trotz mehrfacher Halt-
rufe der Grenzwachen versuchten die beiden zu entkommen. Die Wache schoß und traf den einen so unglücklich, daß er später im Lazarett starb, der andere erhielt einen Halsschuß und starb eines qualvollen Todes. Dies geschah unge-
fähr da, wo man steht, wenn man vom Grenzstein 372 „am Männke“ etwa 100 m auf Effeld zugeht und dann etwa 80 m querfeldein in Richtung auf den Hauptturm des Klosters Dalheim.

Die tragische Flucht löste viel Mitleid unter der deutschen Bevölkerung aus. Jeder empfand über alle Politik die menschliche Seite dieses Problems. Auf dem Friedhof in Steinkirchen wurde der russische Soldat begraben, und das schlichte Grabmal, das ihm die Dörfler setzten, trägt die Aufschrift: „Hier ruht der russische Soldat Alexander Pietrow KRAPNOW aus Patrina Kostrona, geboren am 30.8.1882, gestorben am 21.12.1917. - Die Sehnsucht nach der Heimat brachte ihm den Tod.“ Sein Grab wird in Ehren gehalten, und jedes Jahr am Totensonntag und Allerseelen läßt die Gemeinde ein Licht darauf brennen.

Die angekündigte Fortsetzung unterblieb, da Jakob KEVER am 3.8.1957
verstarb!

 
     
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